Frühneuhochdeutsch
Frühneuhochdeutsch (fnhd.) nennt man die historische Sprachstufe der deutschen Sprache zwischen dem Deutsch des Mittelalters (dem Mittelhochdeutschen) und dem heutigen Deutsch (dem Neuhochdeutschen). Die Periode der frühneuhochdeutschen Sprache wird ungefähr von 1350 bis 1650 angesetzt. Das bekannteste Textzeugnis dieser Sprachstufe ist Luthers Bibelübersetzung von 1545.
Das Frühneuhochdeutsche ist von einer Reihe von Lautwandlungsprozessen gekennzeichnet, die das Mittelhochdeutsche vom Neuhochdeutschen abgrenzen und die im Frühneuhochdeutschen bereits begonnen hatten, aber noch nicht abgeschlossen waren. (Dazu gehören z. B. die sog. „Dehnung in offener Tonsilbe", die „Neuhochdeutsche Monophthongierung“ und die „Neuhochdeutsche Diphthongierung“.) So beginnt man in dieser Zeit zum Beispiel, das „ei“, das im Mittelhochdeutschen noch [ei] ausgesprochen wurde (ähnlich dem „ay“ im englischen „to say“), als [ai] auszusprechen, und „sl“ wird zu „schl“ (z. B. „slafen“ zu „schlafen“). Ausführlicheres zu diesen Lautwandlungsprozessen findet man im Artikel zum Mittelhochdeutschen.
Wie weit der jeweilige Lautwandel bereits fortgeschritten war und wie zuverlässig er sich schon in der (damals noch nicht orthographisch geregelten) Schreibweise niedergeschlagen hatte, war jedoch regional sehr unterschiedlich. Dass ein phonologisch so uneindeutiger und uneinheitlicher Sprachzustand trotzdem als eine eigenständige Sprachstufe kategorisiert wird, liegt vor allem daran, dass die frühneuhochdeutsche Zeit eine wichtige Kulturepoche darstellt, die große Auswirkungen auf die deutsche Sprachgeschichte hatte. So wurde zum Beispiel der Wortschatz des Deutschen durch Luthers Bibelübersetzung, seine Lieddichtungen und durch das umfangreiche Reformationsschrifttum enorm erweitert. Durch den Einfluss des Humanismus traten außerdem eine Anzahl lateinischer Lehnwörter zur deutschen Sprache hinzu und die Grammatik wurde nach dem Vorbild der lateinischen Sprache teilweise umstrukturiert.
Der Wortschatz der Frühneuhochdeutschen wird erfasst und beschrieben im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch, spezifisch für eine südwestdeutsche Varietät sodann im Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache.
Räumliche Gliederung
Während handschriftliche und ortsbezogene Texte große regionale Unterschiede aufweisen haben sich in dieser Zeit mehrere mehr oder weniger einheitlich Druckersprachen herausgebildet, die von der modernen Germanistik meist in sechs Schreibregionen unterteilt werden. Diese Regionen sind nach den wichtigsten Zentren des frühen Buchdruckes:[1]
- Oberdeutsche Druckersprachen
- die Bayerisch-Österreichische mit Ingolstadt und Wien
- die Schwäbische mit Augsburg, Ulm und Tübingen
- die Alemannische mit Basel, Zürich und Straßburg
- die Ostfränkische mit Nürnberg, Bamberg und Würzburg
- Mitteldeutsche Druckersprachen
- die Westmitteldeutsche mit Frankfurt, Mainz, Worms und Köln
- die Ostmitteldeutsche mit Wittenberg, Erfurt und Leipzig
Dies beruht allerdings auf einer teleologischen auf die spätere Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache gerichteten Sichtweise. So haben zeitgenössische Sprachgelehrte unter dem Wort "deutsch" noch alle westgermanischen Idiome verstanden, inklusive der Niederdeutschen Sprache und dem Niederländischen, wobei das Rheinfränkische um den Druckerstandort Köln oft nicht zu den hochdeutschen Varietäten gezählt wurde, etwa bei Sebastian Helber (1530-1598), der noch nach Entstehung der Lutherbibel in seinem Teutschen Syllabierbüchlein (1593) diese Einteilung trifft.
Die Druckersprache in den Niederlanden ging jedoch schon im 15. Jahrhundert sehr eigenständige Wege und nahm am sprachlichen Vereinheitlichungsprozess nicht mehr teil, wodurch sich dort eine eigenständige Schriftsprache bildete, das heutige Niederländisch. Der daran anschließende niederdeutsche Sprachraum wurde hingegen durch die Bibelübersetzung von Martin Luther sprachlich so stark beeinflusst, dass man Ende des 16. Jahrhundert die Niederdeutsche Sprache als Schriftsprache aufgab und das ostmitteldeutsche Lutherdeutsch übernahm, zu erst in gedruckten Schriften und einige Jahrzehnte später auch in handschriftlichen Texten, während es in der gesprochenen Sprache weiter lebte.
Im süddeutschen Raum hingegen hatte die Sprache der Lutherbibel zunächst weniger Einfluss und man pflegte weiter einen älteren oberdeutschen Schreibstil, der noch Ähnlichkeiten zum Mittelhochdeutsch hatte. Diese Sprache wurde von den kaiserlichen Kanzleien bis ins 17. Jahrhundert verwendet und ist deshalb auch als Maximilianische Kanzleisprache oder Süddeutsche Reichssprache bekannt. In der Literatur und den nicht-lateinischen Texten der Wissenschaft und Theologie bildete sich im Süden im laufe des 17. Jahrhunderts die Oberdeutsche Schreibsprache, die auf Grund des konfessionellen Gegensatzes zwischen protestantischem Norden und katholischen Süden in Bayern, Schwaben und Österreich bis zirka 1750 die verbindliche Leitvarietät gedruckter Werke bildete. Erst danach setzte sich auch im Süden das ostmitteldeutsche Neuhochdeutsch durch.
Eine Sonderrolle hatte in dieser Zeit die deutschsprachige Schweiz, wo bis ins 15. Jahrhundert ein alemannisches Mittelhochdeutsch geschrieben wurde. Danach wurde die aus Österreich stammende neuhochdeutsche Diphthongierung auch in die Schrift übernommen, wodurch die westoberdeutsche und die ostoberdeutsche Druckersprache wieder näher aneinander rückten. Die Sprache der Lutherbibel hatte dann im 16. Jahrhundert auf die Schweiz weniger Einfluss als auf andere Regionen, da dort mit der Zürcher Bibel eine eigenständige sprachliche Basis der Reformation gebildet wurde an der sich auch die anderen Texte der Schweizer Buchdrucker orientierten. Somit ist die Durchdringung der Deutschschweiz mit neuhochdeutschen Sprachformen aufs engste mit den Revisionen der Zürcher Bibel von 1665/67 sowie 1755/56 und 1772 verknüpft.[2]
Siehe auch
Literatur
- Christa Baufeld: Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Niemeyer, Tübingen 1996, ISBN 3-484-10268-3
- Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Robert R. Anderson [für Bd. 1] / Ulrich Goebel / Anja Lobenstein-Reichmann [für die Bände 5, 6, 11-13] und Oskar Reichmann. Berlin / New York 1989 ff.
- Frédéric Hartweg, Klaus-Peter Wegera: Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. 2. Auflage. Niemeyer, Tübingen 2005, ISBN 3-484-25133-6
- Walter Hoffmann, Friedrich Wetter: Bibliographie frühneuhochdeutscher Quellen. Ein kommentiertes Verzeichnis von Texten des 14. - 17. Jh. (Bonner Korpus). 2., überarbeitete Auflage. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1987, ISBN 3-8204-8671-2
- Hugo Moser, Hugo Stopp (Hrsg.): Grammatik des Frühneuhochdeutschen. 7 Bände. Winter, Heidelberg 1970–1988
Weblinks
- Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus
- Münchner Corpus Für Frühneuhochdeutsch inklusive Datenbank und Suche
Einzelnachweise
- ↑ Wilhem Schmidt: Geschichte der deutschen Sprache - Ein Lehrbuch für das germanistische Studium; 10. Auflage, Stuttgart: S. Hirzel Verlag, 2007, ISBN 978-3-7776-1432-8, Kapitel 4.1.2 Frühneuhochdeutsch - Räumliche Gliederung
- ↑ Raphael Berthele, Helen Christen, Sibylle Germann, Ingrid Hove: Die deutsche Schriftsprache und die Regionen; Kapitel 2.6 von Werner Besch: Die deutschsprachige Schweiz, Seite 15 ff.; Walter de Gruyter, 2003, ISBN 9783110174977
Quellenhinweis
Dieser Artikel basiert auf dem Beitrag „Frühneuhochdeutsch“ aus der freien Enzyklopädie Wikipedia in der Version vom 01. Juni 2010 (Permanentlink: [1]). Der Originaltext steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation bzw. unter CC-by-sa 3.0 oder einer adäquaten neueren Lizenz. In der Wikipedia ist eine Liste der ursprünglichen Autoren verfügbar.