Reitersiegel
Der Ausdruck Reitersiegel (lat.: sigilla equestria)
- bezeichnet im engeren, sphragistisch-heraldischen Sinn: Siegel, „auf denen der Siegelführende in seiner Rüstung auf einem Pferd erscheint“.[1]
- ist im allgemeinen beziehungsweise umgangssprachlichen Sinn: ein Oberbegriff für Siegel, auf denen eine Person (Ritter, Frau, Heiliger, nicht wehrhafter Minderjähriger) auf einem Pferd sitzend erscheint („Frauen-Reitersiegel“, „Heiligen-Reitersiegel“ et cetera).
Reitersiegel (im engeren Sinn)
Darstellung
Siegel, die den Siegelführenden im Harnisch und reitend darstellen, zeigen Idealbilder, keine wirklichen Individualbilder. Gewöhnlich erscheint die reitende Person nicht als „heilsbegabter König“, „weiser Weltherrscher“, „gravitätisch-thronender Machthaber“, sondern als „junger Held“, „kampfbereiter Ritter“ oder als „würdevoller Feld-/Territorialherr“ hoch zu Roß. Das Pferd selber erscheint im Sprung oder im Galopp, seltener im Trapp oder schreitend (nie oder selten stehend). Je nach Reitersiegel halten die Reiter ein Schwert, eine Lanze, ein Gonfanon, ein Kampfschild oder ein Wappenschild. Zur Identifizierung des Siegelführenden ist meist dessen Zeichen oder Wappen -- häufig mehrfach -- auf Schild, Pferdedecken, Gonfanon (oder wo immer ein Platz vorhanden ist) angebracht.
„Fürsten und Grafen liessen sich zu Pferde mit Schild und Fahne abbilden, wobei das Schild oft ein signum trug, oder sie führten das Schwert; das sind die sog. Reitersiegel;“
Für den Abgleich mit Wappen ist für die Heraldik von Interesse, ob im Reitersiegel auf dem Helm des Reiters (oder sogar auf dem Kopf des Pferdes) eine wappengemäße Zier angebracht ist, die man einem Vollwappen zuordnen kann. Sind die typischen Reitersiegel mit männlichen Geharnischten ursprünglich sehr einfach gearbeitet, sind sie später unter ästhetisch-handwerklichen Gesichtspunkten und was Siegelbildgestaltung anbetrifft ..
„(..) in Plastik, Bewegtheit der Formen, Ausgewogenheit des Bildganzen, Idealisierung des zeitgenössischen Mannes-(Helden-)Ideals vielleicht das Vollkommenste, was die mittelalterlichen Siegelschneidekunst hervorgebracht hat (..)“[3]
Ihre äußere runde Form haben die Reitersiegel im Lauf der Jahrhunderte nicht gewechselt (von wenigen ovalen Ausnahmen abgesehen). Was die „schriftliche Verdeutlichung“ anbetrifft, folgen die Reitersiegeln dem damaligen Zeitgeschmack: Erst das 12. Jahrhundert empfindet die Nennung des Siegelinhabers als notwendig, vorher ist sie kein Muß, sondern ein Kann. Die Inschrift erscheint gewöhnlich als Umschrift, „die ringförmig das Siegelbild des mittleren Feldes umschreibt, von diesem meist durch eine geperlte oder sonstige Trennlinie geschieden“.[3] Neben der Namensnennung erscheint in der Umschrift teilweise auch die Devise des Siegelinhabers.
Reitersiegel von Konrad I. von Luxemburg
(* um 1040; † 8. August 1086)1170: Reitersiegel unter Bogislaw I.
Reitersiegel von Heinrich von Flandern
(* um 1174; † 11. Juni 1216)1189: Reitersiegel unter Nikolaus I.
1226: Reitersiegel unter Kasimir I.
1236: Reiter im Siegel von Alexander Jaroslawitsch Newski
Reitersiegel des Fürsten Otto II. von Anhalt
(† 1315/1316)Reitersiegel von Stephan II. von Bayern
(* 1319; † Mai 1375)- Owain Glyndwr Siegel 2.jpg
Siegel von Owain Glyndŵr
(1404) Reiter im Siegel von Wassili II. (1415-1462)
Reitersiegel von Anton II. (Lothringen)
(* 4. Juni 1489; † 14. Juni 1544)
Inhaber der Reitersiegel
Im Jahre 1837 bestimmt die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste die Inhaber von Reitersiegeln folgendermaßen:
„Die eigentlichen Reitersiegel (..) erscheinen nur bei Personen weltlichen Standes, und zwar bei solchen, die zum Schilde geboren sind, bei diesen aber auch durch alle Stufen hindurch, vom Könige an bis zum ritterbürtigen Ministerialen herab. Es ist also ein Irrtum, wenn man den Gebrauch eines Reitersiegels für ein Attribut der Landeshoheit ansehen will; denn ich habe Reitersiegel im 13. und 14. Jahrhundert von Personen gefunden, die nicht einmal zum unmittelbaren Reichsadel gehörten, und selbst nie einen anderen Rang, als unter dem landsässigen Ministerialen-Adel, in Anspruch nahmen, zum Beispiel die münstersche Familie von Münster (de Monasterio) und andere ganz ähnlicher Kategorie (..) Am häufigsten werden freilich die Reitersiegel bei Personen des Fürsten-, Grafen- und Dynastenstandes gefunden (..)“
Geschichte der eigentlichen Reitersiegel
Reitersiegel erscheinen etwa seit dem 11. Jahrhundert und haben sich bis zum Anfange des 15. Jahrhunderts erhalten.[4] Zu den bekannten Siegeln aus der frühen Zeit zählen beispielsweise das Reitersiegel von Konrad I. von Luxemburg (* um 1040; † 8. August 1086), das des Pfalzgrafen Heinrich am Rhein aus dem Jahre 1095 oder das von Ernst, des Markgrafen von Österreich.[4] Seit dem 13. Jahrhundert verdrängen zunehmend die sogenannten Wappensiegel den Gebrauch der Reitersiegel[3] (..)
„(..) doch haben sie sich noch bis in die neueren Zeiten in den größeren Lehensiegeln der königlichen, kurfürstlichen und reichsfürstlichen Häuser erhalten.“
Unabhängig vom ihrem Verschwinden haben viele Reitersiegel eine große Bedeutung für das Wappenwesen, insbesondere wenn ein Wappenbild dem Bild eines Reitersiegels nachempfunden ist und bis in die heutige Zeit in einer kennzeichnenden Funktion bewahrt wurde. Dies ist beispielsweise beim Schweriner Stadtwappen der Fall, das auf das Reitersiegel von Herzog Heinrich dem Löwen referenziert, das bereits 1295/98 nachweisbar ist. Eine Wappenbeschreibung des Schweriner Stadtwappens lautet:
- „In Blau das goldene Reiterbildnis Herzog Heinrichs des Löwen: ein Ritter mit Topfhelm auf einem gezäumten, schreitenden Ross, in der Rechten eine dreilatzige Fahne und in der Linken einen Dreiecksschild mit einem leopardierten Löwen haltend.“
Reitersiegel allgemein
Zu den Reitersiegeln („Siegel mit Reiter“) zählen im weitesten Sinn auch andere Siegelbilder, die sich von den oben genannten sphragistisch-heraldischen Reitersiegelbildern unterscheiden. Dazu gehören beispielsweise:
- Siegel, die reitende Damen-/Frauen zeigen
- Siegel, die reitenden Heilige zeigen
- Siegel, die reitende, nicht wehrhafte Minderjährige zeigen
- Siegel, die Nicht-Gerüstete oder nur Teilweise-Gerüstete zeigen
- Siegel, die sonstige/besondere Reitende zeigen
Frauen-/Damen-Reitersiegel
In Frauen-Reitersiegel' erscheinen die Reiterinnen selbstverständlich nicht mit Rüstung, sondern in Gewändern der zeitgenössischen Mode. Sie sitzen ..
„(..) gewöhnlich seitwärts zu Pferde (..), also mit dem Gesichte nach Vorne gekehrt; auch wird den Damen gewöhnlich ein Vogel, eine Blume oder ein Spielwerk in die Hand gegeben. Im Daunischen Hause sind Reitersiegel von Frauen gewöhnlich, die eine Geisel in der Hand führen.“
Sibylle de Hainaut (Tochter von Balduin V.)
(1179-1217)Alix de Vergy
(1182–1252)Gersende, Gräfin von Forcalquier,
(*zirka 1180; †zirka 1242)Alix von Chacenay (Tochter von Erhard II.)
(† vor 1278)
Minderjährigen-Reitersiegel
„(..) Auch Minderjährige, noch nicht wehrhafte Söhne, die nicht selten auf Reitersiegeln erscheinen, pflegen einen Vogel oder etwas dem Ähnliches in der Hand zu halten.“
Heiligen-Reitersiegel
Erscheint ein Heiliger in einem Siegel zu Pferde sitzend (zum Beispiel der heilige Georg oder der heilige Martin), so ist dieses Siegel zwar nicht den personenbezogenen Reitersiegel weltlicher Herren im engeren Sinn zuzuordnen. Es ist aber in einem sehr allgemeinen Sinn natürlich dennoch ein Reitersiegel, unabhängig davon, ob nun der Heilige in einer Rüstung dargestellt wird oder nicht. Reitende Heilige finden sich vornehmlich auf den Siegeln der Kirchen und Städte. Wie bei den Reitersiegel im engeren Sinn haben insbesondere jene Heiligen-Reitersiegelbilder eine größere Bedeutung für das Wappenwesen, die sich auch in Wappen wiederfinden.
Dies ist beispielsweise beim Dieburger Stadtwappen der Fall. Die ältesten erhaltenen Siegel der Stadt zeigen den heiligen Martin von Tours, verweisen dadurch auf die engen Beziehungen Dieburgs mit Kurmainz und stammen aus den Jahren 1421 und 1538 (angehängt an zwei Urkunden, die im Pfarrarchiv aufbewahrt werden). Das Heiligen-Reitersiegelmotiv findet sich heute wieder im Stadtwapppen von Dieburg, nachdem der letzte zur Zeit des Nationalsozialismus regierende Bürgermeister, Peter Diehl, vorübergehend den mutmaßlichen Stadtgründer Heinrich von Dieburg als Wappensymbol des Stadtwappens etablierte.
Das älteste Siegel Dieburgs stammt aus der gotischen Zeit. Umschrift: S. universitatis opidi Dippurg („Siegel der Bürgerschaft der Stadt Dieburg“).
Kleineres Stadtsiegel von Dieburg (35 mm Durchmesser). Umschrift: Sigillum oppidi Diepurg („Siegel der Stadt Dieburg“; 17. Jahrhundert).
Reitersiegel von Männern ohne Rüstung
Eine Reihe von Siegeln zeigt reitende Männer ganz ohne oder nur teilweise mit Rüstung, meist ohne wappenartige Zeichen, zumindest ohne Helm, dafür mit idealen Porträts. Auch diese Siegelbilder sind nicht den Reitersiegeln im engeren Sinn zuzuordnen, stehen aber in direkten Zusammenhang mit diesen.
Ludwig VI., genannt der Dicke (* 1081; † 1. August 1137), von 1108 bis 1137 König von Frankreich
Alain IV. (* vor 1072; † 1119), Herzog von Britannien
Conan IV., genannt der Kleine († 1171) war Herzog von Bretagne von 1155 bis 1166
Sonstige/Besondere Reitersiegel
Zu den Reitersiegel, die sich nicht zwingend in eine der oben genannten Gruppen einordnen lassen, gehört beispielsweise das berühmte Templer-Siegel, das zwei Tempelritter in Rüstung auf einem Pferd zeigt.
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Oswald, Gert: Lexikon der Heraldik. Mannheim, Wien, Zürich. 1984. S. 329. ISBN 978-3-411-02149-9
- ↑ Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885. S. 922-924
- ↑ 3,0 3,1 3,2 Ahasver von Brandt: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. Stuttgart 91958/1980. Seite 147 ff. ISBN 3-17-005597-6
- ↑ 4,0 4,1 4,2 4,3 4,4 4,5 Ersch, Johann Samuel; Gruber, Johann Gottfried: Lemma Diplomatische Siegelkunde. In: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge von genannten Schrifts bearbeitet und herausgegeben von J. S. Ersch und J. G. Gruber. Erste Section. A-G. 29. Teil. F. A. Brockhaus. Leipzig 1837. S. 289-290.