Bodenseegruppe
Der Ausdruck Bodenseegruppe (auch Bodensee-Gruppe geschrieben; englisch Bodensee-group oder Bodensee Group) bezeichnet in der Heraldik eine Gattung bedeutender spätmittelalterlicher Wappenbücher (unter Umständen einschließlich ihrer jeweiligen historischen Kopien, Abschriften, Reproduktionen etc.).
Die Wappenbücher der Bodenseegruppe weisen einerseits eine Reihe von inhaltlichen Gemeinsamkeiten auf, die unter anderem im Kontext mit der Konstanzer Konzilschronik des Ulrich von Richental näher interpretiert werden können. Andererseits weisen sie vergleichbare Darstellungskonventionen und mehr oder weniger einheitliche Herstellungstechniken auf, was auf eine gemeinsame Herkunft aus dem Bodenseeraum und angrenzenden Gebieten, auf gleiche Urheber (bzw. auf Austausch zwischen ihnen) oder auf die Verwendung gemeinsamer Quellen hinweist. Zur Bodenseegruppe zählen unter anderem auch die Wappenbücher der sogenannten „Ingeram-Gruppe“.
Erläuterung
Gemeinsamer geographischer Ursprung
Die Bezeichnung „Bodenseegruppe“" wurde von neueren Heraldikern wie Steen Clemmensen geprägt, [1] und deutet durch den Term „Bodensee-“ an, dass die Wappenbücher dieser Gruppe einen gemeinsamen geographischen Ursprung haben bzw. vermutlich alle ursprünglich in „Wappenillustrationswerkstätten“ im Gebiet um den Bodensee und angrenzenden Regionen Süddeutschlands, Österreichs und der Schweiz geschaffen wurden.
Entstehungszeit
In Bezug auf die Entstehungszeit dieser Wappenbücher lässt sich eine enge Fassung der Datierung auf den Zeitraum zwischen ca. 1460 und 1480 anführen. Andere Autoren vertreten die Auffassung, dass die überwiegende Mehrheit dieser Quellen in einem größeren Zeitraum zwischen 1430 und 1500 entstanden ist.
Ingeram-Gruppe
Der Ausdruck „Bodenseegruppe“" hat die früheren Bezeichnungen „Ingeram-Gruppe“ bzw. „Ingeram'sche Wappenbücher“ oder „Ingeram-Typ“ weitgehend abgelöst, die auf heraldische Beiträge zurückgehen, in denen Otto Hupp 1928/1939 beziehungsweise Albert Bodmer 1941 eine einheitliche Produktionstechnik für überschaubare Anzahl von bestimmten Wappenbüchern nachweisen.[2][3][4] Bei dieser Technik wurden die Umrisse der Wappenschilde, der Helme und Helmdecken mit Holzblöcken/Holzschablonen/Holzplatten „vorgedruckt“, so dass die eigentlichen Wappenmaler „nur die Wappenfigur und das Kleinod einzuzeichnen“ brauchten, „um mit verhältnismäßig wenig Mühe“ mehrere, im Detail und Stil abgewandelte bzw. individualisierte Wappenbücher zu schaffen, mit überall anderen Anordnungen der Einzelwappen:[4]
„Alle diese Bücher sind nach den überzeugenden Feststellungen Hupp's in deutschen Werkstätten zwischen 1460 und 1480 entstanden und zeigen überall dieselben Holzschnittvordrucke der Schilde mit den charakteristischen Helmdecken. Der Wappeninhalt ist zum grossen Teil sehr ähnlich, immerhin mit lokalen Abweichungen.“
Zu den Wappenbüchern der Ingeram-Gruppe gehören nach Hupp und Bodmer folgende Werke:
Entstehungszeitraum (ca.) | Name | Kürzel | Standort | Inventarnummer |
---|---|---|---|---|
1452-1459 | ING | Kunsthistorisches Museum Wien | A2302 | |
um 1460 | Berliner Wappenbuch | BLW | Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz | ms. Geneal.Fol. 271 |
1470 | Wappenblätter des Germanischen Museums zu Nürnberg | GMW | Germanisches Nationalmuseum | HB 2372 |
1460 | Wiener Wappenbuch | WNW | Österreichische Nationalbibliothek in Wien | ms. 8769 |
1474, 1478 | Eichstätter Wappenbuch | EIC | Eichstätter Staats- und Seminarbibliothek | ms. 704 |
1466-70 (Hauptteil), 1499, 1522 (Ergänzungen) | Codex Haggenberg | SGH | Stiftsbibliothek St. Gallen | Cod. Sang. 1084 |
Die Gruppierung dieser Werke zu Ingeram-Gruppe war ein wichtiger Schritt für die heraldischen Forschung und das Verständnis dieser mittelalterlichen Quellen. Sie hat sich jedoch in der neueren Forschung als zu eng erwiesen.
Erweiterung der Ingeram-Gruppe zur Bodenseegruppe
Die zunehmende Digitalisierung von historischen Wappenbüchern und Handschriften im 20. und 21. Jahrhundert zeitigte drei signifikante Konsequenzen:
- Erstens ermöglichte die breite Verfügbarkeit von Digitalisaten Heraldikern einen Zugang zu bisher schwer zugänglichem Material im Bestand internationaler Archive und Bibliotheken.
- Zweitens führte die Digitalisierung zur Wiederentdeckung vergessener Kopien und Varianten heraldischer Werke, die renommierten Historikern und Heraldikern wie Seyler, Hupp und so weiter verborgen geblieben waren.
- Drittens offenbarte die vergleichende Analyse digitaler Faksimiles komplexe Interdependenzen zwischen verschiedenen heraldischen Manuskripten, was neue Erkenntnisse über die Inhalte sowie die Herkunfts-, Produktions-, Anordnungs- und Gestaltungsprozesse dieser Werke lieferte.
Im Kontext der Bedeutungszunahme digitaler heraldischer Quellen ist es vor allem das Verdienst des Heraldikers Steen Clemmensen, dass eine Neubewertung etablierter Annahmen über die Ingeram-Gruppe stattfand. In seinen Forschungsarbeiten konnte er nachweisen, dass den Wappenbüchern der Ingeram-Gruppe eine ganze Palette weiterer Wappenbücher zur Seite gestellt werden müssen. Nach Clemmensen und anderen lassen sich diese Wappenbücher präziser durch den Begriff „Bodenseegruppe“ kategorisieren, der den geografischen Ursprung widerspiegelt, als durch den Ausdruck „Ingeram-Gruppe“. Letzterer verweist auf Hans Ingeram, berücksichtigt jedoch nicht, dass etliche Wappenbücher der Gruppe nicht der direkten Verfasserschaft von Ingeram oder einer seiner Mitarbeiter zuzuordnen sind.
In Ergänzung zu den Werken der Ingeram-Gruppe umfasst die Bodenseegruppe nach Clemmensen zudem folgende Wappenbücher:
Genuine Entstehungszeit (ca.) | Name | Kürzel | Kurzbeschreibung |
---|---|---|---|
1414-1418, zusammengestellt 1420-1440 | des Konzils zu Konstanz | KCR | Chronik des Konstanzer Konzils mit etwa 1206 Wappenbildern (Anzahl nach Clemmensen)[1]; in mindestens 16 Handschriften überliefert (es existieren fünf Handschriften aus 1460-1475, 2 frühe Drucke und mehrere gedruckte Auszüge); Haupturheber: Ulrich von Richental. Keine Erwähnung von Turniergesellschaften. Von einigen der Handschriften sind Faksimiles veröffentlicht und/oder Digitalisate im Internet verfügbar. |
1483 | GRU, CGW, KG | Umfangreiches Wappenbuch mit über ca. 2301 Wappenbildern (Anzahl nach Clemmensen)[1]; Haupturheber: Conrad Grünenberg; mindestens neun bekannte Handschriften oder Kopien, darunter
Zwei Handschriften in gutem Zustand: Berliner Handschrift (GRUa) ungeordnet und die Münchner Handschrift (GRUb) in Originalreihenfolge. Faksimiles von den Handschriften wurden von Stillfried, Popoff und anderen veröffentlicht. Digitalisate der Handschriften sind teilweise im Internet verfügbar. | |
1433 (eher 1460/70) | Donaueschinger Wappenbuch | DWF | Enthält ca. 1094 Wappenbilder (Anzahl nach Clemmensen)[1]; eine Handschrift, möglicherweise aus zwei Wappenbüchern bestehend, restauriert. Viele Einträge stark beschädigt, wahrscheinlich in größtenteils korrekter Reihenfolge. Enthält Banner von Turniergesellschaften, keine Quaternionen; Wappen der Könige, Herzöge und Grafen; überwiegend deutscher Adel aus dem Ober- und Niederrhein; Erbländer; inkl. Wappen „des Turnieradels der vier Lande und viele sonst selten vorkommende Wappen kleinerer Adelsfamilien. Schweizerische westwärts bis Freiburg (..) Auch Frankreich, Spanien, Böhmen, Schlesien und Polen sind vertreten“[3]. |
1446 | Stuttgarter Wappenbuch | STU | Enthält etwa 531 Wappenbilder (Anzahl nach Clemmensen)[1]; eine Handschrift, relativ gut erhalten, wahrscheinlich in korrekter Reihenfolge. Keine Erwähnung von Turniergesellschaften, keine Quaternionen. „Wappen der Heiligen Drei Könige, der Heiligen Eustachius, Benedictus und Bernhardus, des Römischen Reiches und der Kurfürsten. Dann folgen von derselben (..) Hand weitere zwanzig Seiten mit je drei Reihen zu je vier Wappen mit Stechhelmen und Decken. Dazu gehören auch noch acht Seiten mit meist je 25 Schilden, die neben Fabelwappen auch die Wappen mancher deutschen und fremden Städte enthalten. Die rund 252 Vollwappen hat der (..) Zeichner wahllos aus älteren Vorlagen kopiert (..) Von anderer Hand und auf anderm Papier ist der zweite Teil gezeichnet (..) Es sind noch 110 Wappen, meist ebenfalls süddeutscher Geschlechter; doch kommen auch manche sonst nicht bekannte Stücke vor, darunter einige aus dem Deutschordenslande und aus Schweden (..)“[3] Kein Faksimile veröffentlicht. |
ca. 1440 | Uffenbachsches Wappenbuch | UFF | Enthält etwa 593 Wappenbilder (Anzahl nach Clemmensen)[1]; eine Handschrift, ungeordnet und beschädigt. Benannt nach dem ehemaligen Besitzer Zacharias Konrad von Uffenbach. Keine Erwähnung von Turniergesellschaften, keine Quaternionen. „Wappen des Römischen Kaisers, französische, spanische, burgundische, englische Wappen, lombardische, italienische, elsässische, niederrheinische, böhmische, bayerische, fränkische, ost- und westschweizerische, österreichische Geschlechter, eine große Anzahl Phantasiewappen biblischer und geographischer Herkunft, dann wieder deutsche Wappen aus allen Gegenden (..)“[3] Faksimile als Mikrofiche mit Kommentaren veröffentlicht (Paravicini UFF). |
1490 | Miltenberger Wappenbuch | MIL | Enthält 1600 Wappenbilder (Anzahl nach Clemmensen; nach Hupp „85 Blätter mit rund 1700 Wappen“)[1][3]; eine Handschrift, gut erhalten, wahrscheinlich in Reihenfolge. „Vorgebunden ist ein altes Namensverzeichnis zu jedem Blatt (..) Zuerst kommen die Serien der »besten« Ternionen und Quaternionen, die Reichsämter, das Kaiser- und Königswappen und der Präfekt von Rom. Dann folgen orientalische und südländische Könige (..) mit je 25 Städtewappen auf 2 Seiten (..) schließlich (..) Hoch-, Turnier- und Landadel vom Rhein, aus Schwaben, Franken, Elsaß, Bayern, Österreich und Schweiz (..) eine Reihe von Bischöfen bilden den Schluß“[3]. Nachdruck von Jean-Claude Loutsch (mit Fotos, meist schwarz/weiß, Identifikationen und Analyse). |
1492, um 1495/1498 | Jörg Rugens Wappenbuch | RUG | Enthält 3616 Wappenbilder (Anzahl nach Clemmensen; nach Hupp „315 Blätter mit mehr als 3600 Wappen“)[1][3]; eine Handschrift, gut erhalten, wahrscheinlich in Reihenfolge. Keine Erwähnung von Turniergesellschaften. |
1485-1490 | Ansbacher Wappenbuch | ANS | Enthält ca. 750 Wappenbilder (Anzahl nach Clemmensen und Hupp)[1][3]; eine Handschrift, nach Hupp „anscheinend zwei verschiedene Wappenbücher (..) schadhafter Zustand. Wappen meist süddeutscher Familien (Bayern, Franken, Schwaben, Oberrhein und einige Österreicher), außerdem 20 Seiten mit Phantasiewappen exotischer Fürsten nach dem Konstanzer Konzilienbuch“[3] |
... und möglicherweise weitere ... | Clemmensen weist darauf hin, dass neben den bereits genannten Wappenbüchern weitere zur Bodenseegruppe gehören könnten,[1] wodurch sich neue Perspektiven für zukünftige Forschungsansätze in diesem Bereich eröffnen. |
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 1,7 1,8 1,9 Vgl. stellvertretend:
- Steen Clemmensen: The St. Gallen-Haggenberg armorial. Introduction and edition. Farum, 2012. ( PDF- 2,53 MB. Abgerufen: 05. Juli 2024)
- ↑ Berchem, Egon Freiherr von; Galbreath, Donald Lindsay; Hupp, Otto: Die Wappenbücher des deutschen Mittelalters. Basel, 1928. (Mit einem Anhang: Zur Datierung einiger Wappenhandschriften von Otto Hupp. S. 85-93).
- ↑ 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 3,5 3,6 3,7 3,8 Berchem, Egon Freiherr von; Galbreath, Donald Lindsay; Hupp, Otto; Mayer, Kurt: Beiträge zur Geschichte der Heraldik. Siebmacher's großes Wappenbuch. Band D. Neustadt. 1939/1972. (Mit einem Anhang: Zur Datierung einiger Wappenhandschriften von Otto Hupp; S. 103-114)
- ↑ 4,0 4,1 4,2 Albert Bodmer: Das Wappenbuch von St. Gallen und seine Beziehungen zur Schweiz. In: Archives héraldiques suisses = Schweizerisches Archiv für Heraldik = Archivio araldico Svizzero. Band 55. Heft 3-4. 1941. (doi:10.5169/seals-745397)